Große Wiedersehensfreude mit den ehemaligen Schülern.
Die Wiedersehensfreude ist groß, als um 16.30 Uhr die ehemaligen Kinder und heute jungen Erwachsenen im Haus der Kinderhilfe Fortaleza eintreffen. Bis vor einem Jahr hat Ritinha in dem doppelstöckigen Haus gewohnt. Das Haus liegt in einer kleinen Querstraße in unmittelbarer Nähe zur Hauptstraße Leste Oeste, die durch die Favela führt. Das Erdgeschoss wurde umfunktioniert, nachdem Ritinha ins Haus ihrer Tochter Jarlyne gezogen ist. Es dient der Kinderhilfe Fortaleza seither als Büro, Treffpunkt und Nachhilferaum für die Schüler. Im ersten Stockwerk wohnt Ritinhas Sohn Járysson, dessen Frau Ana neben ihrem Studium für die Kinderhilfe Fortaleza arbeitet.
Den Raum haben wir zur Feier des Tages ausgiebig geschmückt, alle Sitzgelegenheiten, die wir finden konnten, aufgestellt und Snacks, Kuchen und Getränke besorgt. Es ist lustig, die Jugendlichen wiederzusehen. Im Gegensatz zu Julia kenne ich die „Kinder“ in erster Linie von diversen Fotos und von meinem Besuch vor 13 Jahren. Bei vielen muss ich drei Mal hingucken, bis ich erkenne, um wen es sich handelt.
In unserer Begrüßungsrunde bekommen die vertrauten Gesichter Namen und es zeigt sich, wie unterschiedlich ihre Wege nach dem Abschluss der Mittelstufe weitergingen. Nur eine von ihnen, Ciciane, wohnt nicht mehr in Fortaleza. Sie hat es sich nicht nehmen lassen und ist für das Wiedersehen mit Julia extra aus Quixada gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Ana Cicilia vier Stunden mit dem Bus angereist. Was uns besonders freut ist zu erfahren, dass abgesehen von Ciciane alle unserer ehemaligen vor uns sitzenden Schüler erfolgreich die Oberschule abgeschlossen haben oder sie noch besuchen. Diejenigen, die bereits mit der Schule fertig sind, scheinen im Leben zu stehen.
Der Spieß hat sich umgedreht: Jetzt helfen die Kinder ihren Eltern
Alexandra, die auf der Startseite unserer Webseite im Alter von sechs Jahren mit einer Zahnlücke und vor einem Berg Geschirr in die Kamera lacht, hat dabei den größten Erfolg vorzuweisen: Nachdem sie die Oberschule abgeschlossen hatte, hat sie die Aufnahmeprüfung zur Universität bestanden und studiert nun im zweiten Jahr „Administração de Empresas“ (ähnlich dem deutschen BWL). Besonders berührt es uns zu hören, dass ihr eigener Weg die ganze Familie beeinflusst hat. Ihr Vater, der als Kind nur bis zur vierten Klasse zur Schule gegangen ist, holt die Schule jetzt per Abendkurs nach. Gleichzeitig arbeitet er bei der Stadtreinigung, wo er die einzelnen Teams koordiniert. Mit diesem Gehalt und mit dem der Mutter, die drei Tage die Woche als Putzfrau arbeitet, finanzieren sie die fünfköpfige Familie. Ihre kleine Schwester Letícia wird ebenfalls von uns unterstützt und besucht die Grundschule. Die mittlere, Fernanda, besucht die staatliche Grundschule, auf der ihr das etwas langsamere Lernen leichter fällt.
Auf unsere Frage, was ihr die Schule gebracht hat, erzählt sie uns, dass sie ihrem Vater heute beim Lernen helfen kann. Sie ist dankbar für die Möglichkeit, auf diese Weise die Liebe, die sie die letzten 19 Jahre von ihren Eltern bekommen hat, zurückgeben zu können. Von Alexandra erfahren wir, dass die private Universität, die sie besucht und die zu einer der besten Fortalezas zählt, eine monatliche Gebühr erhebt. Diese bezahlt sie mit Hilfe einer staatlichen Förderung, die sie jedoch nach dem Studium zurückzahlen muss. Damit muss sie spätestens zwei Jahre nach dem Uni-Abschluss beginnen und insgesamt hat sie zehn Jahre dafür Zeit.
Haysa, die Zweite in der Runde, die sich zur Aufnahmeprüfung für die Uni angemeldet hat, pflichtet ihr bei. Sie empfindet es als großes Privileg, lesen und schreiben zu können. Sie hat zwei Schwestern. Eine von ihnen sieht man auf unserer Webseite beim Lernen, damals war Hayara 6 Jahre alt. Heute sind die Schwestern 22 (Haysa), 21 (Hayara) und 15 Jahre alt (Hayalana). Ihre Augen fangen an zu leuchten als sie uns erzählt, wie stolz es sie macht abends nach Hause zu kommen und ihren Vater neben ihrer Schwester Hayalana am Tisch zu sehen – und alle sind am Lernen.
Die Unterschiede zwischen privaten und staatlichen Schulen sind riesig
Die lustige Runde aus jungen, aufgeschlossenen, zu Beginn noch etwas schüchternen Menschen, muss laut lachen, als Ciciane eine kleine Anekdote erzählt: Im Alter von acht Jahren, sie besuchte mit unserer Hilfe die private Grundschule, war sie mit ihrer Freundin in der Stadt. Diese zeigte auf das Schild eines Geschäfts und sagte: „Guck mal, da gibt es Schuhe.“ Ciciane wusste es eindeutig besser und korrigierte ihre Freundin: „Du Dummkopf, da gibt es keine Schuhe (Port.: sapatos), sondern Suppe (Port.: sopa).“
Alle sind sich einig, dass zwischen den privaten und den staatlichen Schulen Welten liegen. Das beruhigt uns, da wir uns immer wieder fragen, ob das relativ hohe Schulgeld der Kinder, für das wir monatlich aufkommen, gerechtfertigt ist. Doch die Jugendlichen bestätigen, dass ihre Freunde auf den staatlichen Schulen im Vergleich zu ihnen merklich langsamer und schlechter gelernt haben als sie selbst. Ciciane unterstreicht: „Julia war ein Engel, dem ich für die Möglichkeiten, die ich bekommen habe, für immer dankbar sein werde.“ Da ist er wieder, der Engel. Nicht nur in meinen Augen.