Das Haus der Kinderhilfe Fortaleza
Nach einem schnellen Frühstück bestehend aus Papaya, Toastbrot und Café brechen wir auf in das „Haus der Kinderhilfe Fortaleza“. Das Haus besteht aus zwei Stockwerken und gehört Ritinha. Seitdem sie mit ihrem Mann aus gesundheitlichen Gründen bei ihrer Tochter rund einen Kilometer entfernt wohnt, mieten wir das untere Stockwerk. Im ersten Stock wohnt Ritinhas Sohn Járysson mit seiner Frau Ana, die gemeinsam mit Ritinha für die Kinderhilfe Fortaleza arbeitet.
Da die Mehrzahl der Schüler in Brasilien entweder ausschließlich vormittags oder ausschließlich nachmittags Unterricht haben, ist eine bezahlte Hausaufgabenbetreuung (Port.: reforço) Gang und Gebe. Wir bieten unseren Schülern eine solche Betreuung seit 2001 an. Diese findet hier im Raum statt. Außerdem lagern hier alle Materialien wie Stifte und Hefte, in einem Regal befinden sich Bücher und Lexika und in einer Ecke steht ein Computer. Alle Versammlungen mit den Eltern und Kindern werden hier abgehalten. Das Erdgeschoss besteht aus einem kleinen Eingangsbereich, zwei separaten kleinen Zimmern jeweils mit angeschlossenem WC und Dusche und einen größeren, offenen Raum, zu dem eine Küchenzeile (ohne Herd und Kühlschrank) gehört.
Beim Betreten des Raumes werden wir sofort von den Mücken zerstochen. Es ist gerade länger nicht gelüftet worden, da das Schuljahr in Brasilien im Februar beginnt und alles erst nach Karneval richtig anfängt. Der Raum ist im Vergleich zu den kleinen Häuschen, in denen die meisten Kinder mit ihren Eltern wohnen, relativ groß, der Boden und ein Teil der Wände sind ordentlich gefliest. Dennoch blättert an vielen Stellen der Putz ab. Die Bilder hängen schief, durcheinander und eingestaubt an den Wänden. Die Küchenzeile scheint sehr lang nicht benutzt worden zu sein, was verständlich ist, schließlich gibt es weder einen Kühlschrank noch einen Herd. Leider dringt nur durch den Eingang Tageslicht in den Raum, daher fehlt es auch an Lüftungsmöglichkeiten. Einen Ventilator gibt es hier leider nicht.
In uns reift eine Idee
Ich setze mich mit einer halben Flasche „Antibrumm“ ausgestattet in den Eingangsbereich, um wenigstens ein bisschen Luft abzubekommen und beginne zu schreiben. Merkwürdigerweise fühlt man sich hier schnell wohl. Dank Járysson, der hauptberuflich im IT-Bereich arbeitet, gibt es hier im Raum Internet. Julia und Ritinha unterhalten sich im Innern des Raumes und sortieren die Materialien sowie die vielen Dinge, die wir aus Deutschland mitgebracht haben: Medikamente, Zahnbürsten, Zahnpasta, Kleidung, Kuscheltiere und viele Mitbringsel für unsere Hausbesuche. Immer wieder kommen Nachbarn und Personen vorbei, die mit der Kinderhilfe Fortaleza verbunden sind. Alle freuen sich, Julia wiederzusehen, setzen sich, machen Fotos, erzählen aus ihrem Leben. Ich fühle mich ein bisschen wie ein beobachtender Fremdkörper mit meinem Laptop und lasse mich von der positiven Atmosphäre, dem Straßenlärm und der Hitze, die immer wieder hereinwehen, einlullen.
Als wir gegen 12.30 Uhr zum Mittagessen nach Hause gehen, es gibt Reis und Bohnen, merken Julia und ich, dass wir das gleiche denken: Dieser Raum hat Potential, das viel stärker genutzt werden sollte. Seit unserem so positiven Treffen mit den ehemaligen Schülern vergangenen Samstag, reift in uns eine Idee: Wie können wir die ehemaligen Schüler und die Eltern, die uns so dankbar sind für die Ausbildung ihrer Kinder, stärker in unsere Arbeit vor Ort einbinden? Zu diesem Gedanken gesellt sich nun ein weiterer: Wenn wir hier schon einen Raum für 500 Reais im Monat (rund 170 Euro) mieten, warum versuchen wir dann nicht, aus diesem das Maximale herauszuholen?
Unsere Vision braucht tatkräftige Unterstützung
Was die Kinder und Jugendlichen brauchen, ist ein sicherer Ort, an dem sie ihre Hausaufgaben machen können, spielen, sich austauschen und treffen. Ein Ort der Begegnung, wo sie sich lieber aufhalten als zu Hause. Was die Eltern brauchen ist eine Person, die sich um die Kinder kümmert, während sie arbeiten. In unseren Gesprächen merken wir, dass alle bereit wären, ihr Wissen weiterzugeben und zu helfen: Die Jugendlichen an die Kinder, die Eltern an die Jugendlichen. Mariana backt gern und spricht gut Englisch, die Mutter von Enilson und Aryadne ist Krankenschwester und weiß viel über Gesundheit, Járysson kennt sich hervorragend mit Computern aus, Ana mit Zahlen und Ritinha ist für alle eine vertrauensvolle Seelsorgerin.
In der Vergangenheit wurden wir in Deutschland immer mal wieder gefragt, wie man uns bei unserer Arbeit In Brasilien unterstützen könnte und ob die aktive Mitarbeit beispielsweise in Form eines Praktikums möglich sei. Nun können wir mit gutem Gewissen sagen, dass wir dies problemlos organisieren könnten. Wir haben ein großartiges Team und Netzwerk an Leuten hier in Fortaleza. Die Renovierung des Raumes, die Betreuung der Kinder, das Mitbringen von Materialien und das Übersetzen von Texten – es entwickeln sich viele Ideen, was vor Ort gemacht werden könnte. Anreise, Kost, Logis – alles würde sich irgendwie finden. Auch für diese Gewissheit ist unsere Reise Gold wert.
Vier weitere Hausbesuche bei 32 Grad und Sonnenschein
Direkt nach dem Mittagessen stehen vier weitere Hausbesuche an. Wie gewohnt, brennt die Sonne vom tiefblauen Himmel. Eine frische Meeresbrise von der 300 Meter entfernten Küste? Fehlanzeige. Wir sind dem Äquator so nah, dass der eigene Schatten mittags gerade einmal eine Fußlänge beträgt. Als erstes besuchen wir Kayllane Victória. Sie wohnt mit ihrer Mutter im ersten Stock eines kleinen Häuschens. Alles wirkt frisch und aufgeräumt, aber auch hier gibt es nur ein Schlafzimmer. Mutter und Tochter teilen sich das Doppelbett. Die siebenjährige Victória überrascht uns mit einer selbstgeschrieben Dankeskarte, die sie uns stolz vorliest. Überhaupt werden wir bei all unseren Besuchen mit offenen Armen empfangen, werden überall mit einer kleinen Aufmerksamkeit beschenkt und bekommen regelmäßig Kuchen und Cafezinho angeboten.
Über die enge Wendeltreppe steigen wir nach unserem Besuch wieder hinab. Wir sind ehrlich überrascht, wie reibungslos unser Programm hier funktioniert. Auf der Straße wartet bereits der Vater von Maria Clarice, der uns über einen abenteuerlichen Weg zu sich nach Hause führt. Auf unserem zehnminütigen Fußmarsch durch die Favela werden die Straßen immer enger und dreckiger, je näher wir dem Zuhause der Familie kommen. Der Weg, in dem die vierköpfige Familie wohnt, ist steinig, von Müll übersäht und in der Mitte sucht sich ein stinkendes Rinnsal seinen Weg. Das Häuschen der Familie ist wiederum sehr sauber, aufgeräumt und nett geschmückt. Die Küche kann sogar ein dekoratives Highlight vorweisen: Alles ist in orange gehalten, vom dem Besteck über die Wanduhr bis hin zu den Möbeln. Die Eltern und der zweijährige Bruder von Clarice schlafen im Doppelbett, die Tante und Clarice selbst schlafen in Hängematten im Wohnzimmer.
Nach unserem Besuch begleitet uns der Vater wieder durch die engen Gassen zurück auf die nächste größere Straße. Gemeinsam mit Ritinha und Ana geht es weiter zu Gustavo, der mit seinem älteren Bruder Samuel, seiner Schwester Sara und seiner Mutter im ersten Stock eines kleinen Häuschens nahe der Hauptstraße wohnt. Der normalerweise wahnsinnig schüchterne zehnjährige Junge taut in unserer Gegenwart zum ersten Mal richtig auf. Grund sind seine zwei zahmen Vögel, die er uns stolz vorführt und uns auf Schulter und Finger setzt. Später in dieser Woche wird uns seine Mutter sagen: „Gustavo ist seitdem ihr da seid ein besserer Junge.“
Langsam sind wir durch, aber es steht noch ein letzter Besuch an: Emily und Junior sind 14 und 12 Jahre alt. Das Häuschen, in dem sie wohnen, ist leider nur eine Zwischenlösung von Bekannten, die Mutter sucht händeringend nach einer neuen Bleibe. Was uns auffällt ist, wie sauber und ordentlich es hier ist. Das liegt zum einen an der guten Bausubstanz des Häuschens und der großen Veranda, zum anderen aber wohl auch daran, dass die Mutter ein Kredo hat, wie sie uns sagt: „Wir sind zwar arm, können aber trotzdem sauber wohnen.“ Das ist auch Verdienst ihrer beiden Kinder, die tatkräftig mit anpacken. Uns berührt zu hören, wie viel auch diese Mutter arbeitet. Ihr einziger freier Tag ist samstags, an dem sie Wäsche wäscht und den Haushalt macht. Sonntags verdient sie sich 80 Reais (rund 27 Euro) als Kellnerin hinzu, unter der Woche arbeitet sie bei den städtischen Wasserwerken. Für unseren Ausflug vergangenen Sonntag hat sie sich von ihrer Schwester vertreten lassen. Das Mittagessen für die Kinder kocht sie jeden Abend vor, um es in ihrer kurzen Mittagspause, in der sie mit dem Bus extra nach Hause kommt, aufzuwärmen. Diese sympathische, ernsthafte Mutter scheint völlig erschöpft zu sein. Als wir ihr sagen, dass wir großen Respekt davor haben, wie viel sie arbeitet, stehen ihr die Tränen in den Augen.