Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


Gier auf Probleme

Kein Tag vergeht ohne Hinweis auf die sozialen Nöte Brasiliens. Dahinter stecken auch handfeste wirtschaftliche Interessen: Es geht um Spendengelder. Und das Image manchen Fußballprofis.

Von Tobias Käufer, Rio de Janeiro (Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 7. Juni 2014)

Die Berliner Kinderärztin Dr. Julia Kaethner, Gründerin und Vorsitzende der Kinderhilfe Fortaleza, ist eine engagierte Frau. Ihre Arbeit für die Kinder aus den Armenvierteln im deutschen WM-Spielort wird in beiden Ländern geschätzt. Die deutsche Medizinerin fällt aufgrund ihrer Arbeit vor Ort ein vernichtendes Pauschalurteil über das gesamte Schulwesen im Gastgeberland: „Das brasilianische Bildungssystem versagt trotz landesweiter Schulpflicht auf ganzer Linie.“

FAZ_SeiteDie Hilfsorganisation „Survival International“, die sich für die Belange indigener Völker in der ganzen Welt einsetzt, hat gar eine Serie mit dem Titel „Die dunkle Seite Brasiliens“ aufgesetzt. „Plan International Deutschland“ bietet unterdessen Insider-Geschichten rund um die Fußball-WM 2014 und das Gastgeberland Brasilien an. Unterstützt wird die Kinderhilfsorganisation von Nationalspieler Mario Götze, der sich für den Mädchenfußball in Brasilien einsetzen will. „Die Mädchenfußball-Projekte von Plan International stärken die Mädchen im Nordosten Brasiliens und geben ihnen durch Bildung die Chance auf eine bessere Zukunft“, sagt der Bayern-Profi in einer offiziellen Stellungnahme. Denn neben Fußball-WM, Samba und Traumstränden habe Brasilien noch eine andere Seite: Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinnern und Verlierern klafft immer weiter auseinander, heißt es darin weiter. Götze trägt auf dem offiziellen Pressebild übrigens ein Trikot eines amerikanischen Sportartikelherstellers, der nicht gerade dafür bekannt ist, seinen Zulieferern in Entwicklungsländern besonders hohe Löhne zu zahlen.

Kein Tag vergeht, in dem deutsche Hilfsorganisationen, Prominente oder Fußballer auf das Versagen Brasiliens als WM-Gastgeber hinweisen. Journalisten werden Interviews und Vor-Ort-Reportagen angeboten, stets mit dem Hinweis, es gebe dort auch besonders dramatische Bilder. In der Bildungspolitik, bei der Sicherheit, in der WM-Vorbereitung. In allen Bereichen habe Brasilien versagt, erfährt der deutsche Medienkonsument nahezu täglich. Und die Nichtregierungsorganisationen überbieten sich mit Schreckensnachrichten. Als vor ein paar Tagen eine Gruppe von Favela-Bewohnern an der Copacabana ihrem Unmut über die Zustände im Land Ausdruck verlieh, waren fast doppelt so viele Fotografen und Kameramänner vor Ort wie Demonstranten.

Brasiliens Sportminister Aldo Rebelo sprach zuletzt von einer internationalen Medienkampagne gegen Brasilien. Sein Stellvertreter Luis Fernandes warf den reichen Industrieländern vor, Brasilien mit anderen Maßstäben zu messen als zum Beispiel Russland oder Frankreich. Er nannte das Beispiel einer Brandkatastrophe vor einigen Jahren in einer bei Studenten beliebten Diskothek in Brasilien. „Wäre das in Europa passiert, niemand hätte eine Verbindung zur WM gezogen und die Kapazität Brasiliens in Frage gestellt, ein solches Turnier auszurichten.“

Venezuelas Präsident Nicolás Maduro, der sich freut, dass die Welt lieber nach Brasilien schaut, statt sich über die skandalöse Verhaftungswelle gegen die Opposition in seinem Land zu empören, hebt das Problem noch auf eine höhere Ebene: Die Länder der Nordhalbkugel würden niemals akzeptieren, dass ein Land aus der südlichen Hemisphäre ein WM-Turnier organisieren könnte, sagte der radikale Linkspopulist aus Caracas. Ein Versuch, von den hausgemachten Problemen in seiner Autokratie abzulenken, natürlich. Trotzdem steckt ein Körnchen Wahrheit in den Aussagen von Rebelo und Maduro.

Hinter der deutschen und europäischen Gier auf die Probleme in Brasilien stecken handfeste Interessen: Es geht um Spendengelder und Imagetransfer. Noch vor Jahren hatten deutsche Hilfsorganisationen, die sich in Brasilien engagieren, große Sorgen wegen der WM. Bilder von hochmodernen Stadien aus einem Dritte-Welt-Land, das zudem noch riesige Ölfunde meldete, wer würde da noch spenden wollen? Dann erhob sich in Brasilien der Mittelstand, um gegen die Korruption und die Kostenexplosion bei den Stadionbauten zu demonstrieren – und plötzlich sind auch alle Hilfsorganisationen wieder im Geschäft. Und die Berater von Mario Götze erhoffen sich durch sein Engagement für „Plan International Deutschland“ den Bau einer „Vertrauensbrücke“, wie es Marketingstrategen nennen. Das Image des Bayern-Profis soll aufgebessert werden. Was passt da besser als ein Engagement für notleidende Mädchen in den deutschen Spielorten der WM in Brasilien?

Zwischen dem von den Hilfsorganisationen vermittelten Bild und der Realität gibt es allerdings Wiedersprüche. Trotz all der Proteste und Demonstrationen werden jetzt die Straßen in Rio de Janeiro, São Paulo oder Salvador geschmückt. Die Menschen hängen in diesen Tagen die Fahnen auf die Balkone, die Straßen verwandeln sich wenige Tage vor der WM in grün-gelbe Partymeilen. Spätestens am 13. Juli mit dem Abpfiff des WM-Finales dürfte auch das internationale Interesse an der Situation in Recife, Salvador oder Fortaleza schlagartig abflauen. Dann rückt Rio de Janeiro in den Mittelpunkt: Dort sind in zwei Jahren die Olympischen Spiele. Dort wird es schon genügend Probleme geben.

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