Pause vom Alltag
Unsere Arbeit fußt auf drei Säulen. Bildung, Gesundheit und Freude. Wir haben uns bewusst entschlossen, unsere Woche hier mit dem Freudigen zu beginnen: einem Ausflug an den Strand. Den Rest der Woche werden wir so viele Familien wie möglich zu Hause besuchen. Da ich Julia vor 13 Jahren schon einmal bei dieser Tour begleitet habe, weiß ich in etwa, was uns dort erwartet. Viele der Familien wohnen in erbärmlichen Verhältnissen und sind es nicht gewohnt, Besuch zu bekommen. Deshalb sind sie bei den Hausbesuchen oft sehr schüchtern und zurückhaltend. Für unsere Gespräche mit den Eltern wollen wir, dass sie sich öffnen. Dabei soll der Ausflug direkt zu Beginn unseres Besuches helfen.
Dieser Tag heute ist für die Kinder und ihre Familien viel mehr als ein Ausflug an den Strand. Er bedeutet, ihrem Leben für einen Tag zu entfliehen. Dem Leben in viel zu kleinen, engen, stickigen Häuschen, der dauernden Sorge, dass das Geld für den nächsten Einkauf nicht mehr reichen könnte und der ständigen Angst um die Kinder, dass ihnen in den dreckigen Straßen der Favela etwas zustoßen könnte.
Treffpunkt: Sonntag, 7.30 Uhr
Wir treffen uns am Sonntag Morgen um 7.30 Uhr vor dem Haus der Kinderhilfe Fortaleza. Die Uhren ticken hier anders: Morgens wird es um 5.30 Uhr hell, abends um 18 Uhr dunkel. Ein großer, alter, wenig vertrauenserweckender Bus, den wir für einen Tag gemietet haben, wartet schon. Der Himmel ist bedeckt, es ist schwül. Die Stimmung ist zurückhaltend, aber gleichzeitig liegt eine gespannte Vorfreude in der Luft. Als wir zwei Stunden später in der Pousada (Pension) Oca dos Indios in Morro Branco ankommen, platzt schnell der Knoten. Die Anlage ist weitläufig, die Kinder können sich hier frei bewegen und toben über den Rasen. Interessanterweise geht kaum jemand runter an den Strand, sondern alle plantschen schnell im flachen Wasser des Pools – nur die wenigsten der Eltern und Kinder können schwimmen.
Von den Eltern schlägt uns eine Welle der Dankbarkeit entgegen. Es ist unfassbar, wie viel und hart die meisten Eltern arbeiten, um den Alltag einigermaßen zu meistern. In der Regel verlassen sie wochentags zwischen 5 und 6 Uhr das Haus und kommen nicht vor 19 Uhr wieder nach Hause. Freie Zeit mit den Kindern zu verbringen ist ein absoluter Luxus. Und wenn, dann geschieht das ausschließlich sonntags in – wie schon gesagt – engen, stickigen Häuschen, in denen sich das Geräusch des Ventilators mit dem des ständig eingeschalteten Fernsehers mischt. Sonntage sind Familientage, aber es gibt weder etwas zu tun, noch einen Ort, an dem man sich gern aufhält.
Mittags wartet ein riesen Buffet auf uns
Um 13 Uhr gibt es Mittagessen für alle. Das Buffet ist groß und lecker: Blattsalat, Nudelsalat, Reis, Huhn, eine Art Risotto mit Nüssen und zum Nachtisch gibt es Maracujasorbet. Die Familien sitzen jeweils an einem der Plastiktische zusammen und man spürt, wie gut es ihnen hier im Schatten der überdachten Terrasse geht. Mittlerweile strahlt die Sonne vom Himmel. Dank des frischen Windes, der vom Strand heraufweht, kann man gar nicht anders, als tief durchzuatmen.
Die Kinder springen nach dem Essen sofort wieder ins Wasser. Die Eltern schaukeln zum Großteil in den Hängematten, die an den Bäumen zwischen den kleinen Häusern der Pousada baumeln. Ich gehe runter an den Strand und sammle schnell ein paar Muscheln für Lino und Anna, Julias Kinder. Versprechen muss man halten. Da unterscheiden sich deutsche und brasilianische Kinder nicht voneinander. Der Strand ist ewig lang und das Wasser tobt. Die Küste ist bekannt für ihre Dünen, die von Touristen am liebsten motorisiert per Buggy erkundet werden. Ich finde es merkwürdig, dass immer wieder ein Auto über den Sand an mir vorbeibrettert und frage mich kurz, was das wohl für die Natur hier bedeutet.
Marianas Geschichte
Als ich mich in den Sand setze, kommt Mariana vorbei. Mariana ist bildhübsch und hat mich schon gestern bei unseren Ehemaligentreffen mit ihren guten Englischkenntnissen überrascht. Sie zählt mir innerhalb einer Minute geschätzte 30 amerikanische Fernsehserien auf, die sie geguckt und so Englisch gelernt hätte. Hüstel, nein, ich habe keine einzige davon gesehen, kenne aber immerhin so gut wie alle vom Namen. Mariana gehört zu den Jugendlichen, die mit unserer Unterstützung die Grund- und Mittelstufe der Schule besuchen konnte. Die Oberschule, die noch einmal drei Jahre dauert, absolviert sie nun auf einer öffentlichen Schule, die kein Schulgeld verlangt.
Mariana wurde von ihrer Mutter als Kind schwer misshandelt. Die Brandnarben der ausgedrückten Zigaretten sieht man bis heute auf ihrer Haut. Fast noch schlimmer ist, dass man sie im Gespräch mit ihr auch spürt: „Ich verstehe nicht, warum meine Mutter mich nie gemocht hat“, sagt sie nüchtern. Mit sechs Jahren zog Mariana zu ihrer Tante Socorro, bei der sie eine neue Familie fand. Ihr Vater war lange Zeit Alkoholiker, mittlerweile ist er trocken und sie haben hin und wieder Kontakt. „Ich weiß nicht, ob ich selbst Kinder haben will, weil ich auf keinen Fall die gleichen Fehler machen möchte wie meine Mutter“, sagt sie. Wir unterhalten uns fast eine Stunde lang. Ich bin tief beeindruckt und aufrichtig überrascht von den Dingen, die Mariana mir erzählt und werde versuchen diese nach unserer Woche hier in Fortaleza noch einmal gesondert aufzuschreiben.
Der krönende Abschluss bei Sonnenuntergang
Wir werden unterbrochen, weil es Zeit wird für unsere lang geplante Fotosession am Strand: alle Familien, alle Schüler, alle Ehemaligen, alle zusammen, alle einzeln – Julia hat sehr konkrete Vorstellungen. Die Zeit drängt, weil sich die Sonne jetzt um 17 Uhr bereits schnell senkt. Um 18 Uhr wird es dunkel sein und wir werden alle wieder im Bus auf dem Weg nach Hause in die engen, staubigen Straßen der Favela Pirambu sitzen
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